Der unglaubliche Skandal um die Fälschung der Abgaswerte von VW-Diesel-Motoren, der jetzt ja schon seit einigen Wochen die Schlagzeilen beherrscht, wirft viele Fragen auf: Warum stellt der Konzern eigentlich nur gut 6 Mrd. Euro zurück, wenn doch eine Strafe von 16 Mrd. Euro zu erwarten ist? Wie kann es sein, dass Top-Entscheider eines Weltkonzerns tatsächlich die strategische Entscheidung getroffen haben, die Öffentlichkeit und ihre Stakeholder aktiv zu betrügen? Hat niemand das enorme Risiko gesehen, das Markenimage komplett zu ruinieren? Ist niemand in der Konzernführung auf die Idee gekommen, dieses Risiko irgendwie zu hedgen? Warum setzt unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eigentlich Anreize, sich auf diese Art von Betrügereien einzulassen? Und und und…
Die aktuellste und mit Abstand weitreichendste Frage aber stellt sich mir erst auf den zweiten Blick: Was von dem, was uns moderne Elektronik als Wahrheit vorspiegelt, ist eigentlich wirklich „wahr“? Und wie können wir ein „echtes wahr“ von einem „gelogenen wahr“ unterscheiden?
Um das konkret zu machen: Die Abgaswerte moderner Autos werden ja, wenn sie denn überhaupt von unabhängiger Seite überprüft werden, auf Grund der Daten überprüft, die die fahrzeugeigenen Sensoren liefern. Eine Abgasuntersuchung erfolgt daher heute nicht mehr mit einer Sonde im Auspuff, sondern mittels eines Notebooks, das den Fehlerspeicher der Autoelektronik ausliest. Damit verlässt man sich darauf, dass die Daten, die die Fahrzeugsensoren liefern, „wahr“ sind. Wenn diese Annahme richtig ist, verringert sich durch dieses Verfahren der Messaufwand und außerdem wird nicht nur eine Stichpunkt-Messung vorgenommen, sondern es findet idealerweise eine kontinuierliche Überwachung des Fahrzeuges während des laufenden Betriebes statt – eben durch die eigenen Sensoren.
Freilich könnten nun aber diese Sensoren erstens nicht mehr richtig funktionieren, weil sie beispielsweise schon zu alt oder aus sonstigen Gründen nicht mehr zuverlässig sind. OK, das könnte gut programmierte Software vielleicht bemerken. Betonung liegt dabei auf „gut“ und „könnte“.
Im Ergebnis jedenfalls erhält ein Prüfer „wahre“ Werte, die möglicherweise aber „falsch“ sind. Und das merkt er natürlich nicht…
Zweitens ist es so, dass die Daten, die die Fahrzeugsensoren liefern, nicht direkt durch das Prüfernotebook ausgelesen werden können. Dazu müsste dieses Notebook ja sonst auch ständig im Auto mitfahren. Vielmehr ist es so, dass die Daten zunächst von Computerprogrammen gelesen, sortiert und aufbereitet, mit weiteren Daten angereichert, in eine irgendwie verständliche Form gebracht und schließlich im Fehlerspeicher des Autos abgelegt werden. Was in diesem Prozess ansonsten noch mit den Daten passiert – wie sie möglicherweise, absichtlich, unabsichtlich, böswilligerweise oder einfach nur leichtfertig verändert oder manipuliert werden – das weiß eigentlich nur der Programmierer, und der vielleicht auch noch nicht mal richtig. Otto Normaltester beim TÜV oder der DEKRA jedenfalls kann das nicht beurteilen. Er kann nur den Informationen glauben, die am Bildschirm seines Rechners angezeigt werden. Und diese für „wahr“ halten.
Das Dilemma ist die Komplexität heutiger IT-Systeme (und ein modernes Auto ist ja nichts anderes als ein IT-System auf Rädern). Alles das, was auf irgendwelchen Bildschirmen (oder sonstwie) angezeigt wird, lässt uns glauben, dass es die Wirklichkeit – die „Wahrheit“ – ist. Und das gilt nicht nur für die Anzeige von Abgaswerten, sondern beispielsweise auch für die Anzeige der Einstellungen unseres Devices – ob die Webcam läuft oder nicht, ob das Mikrofon ausgeschaltet ist oder nicht, ob Daten gesendet werden oder empfangen, ob die Internetverbindung direkt mit der Icloud besteht oder durch die NSA umgeleitet ist.
Früher waren wir der Meinung, dass nur unser eigenes Gehirn die Informationen verändert, die wir durch unsere Sinne aufnehmen. Heute haben wir „Verlängerungen“ für die Sinne erfunden, die aber leider nicht zweifelsfrei unverfälschte Informationen den menschlichen Sinnen liefern. Die Unzuverlässigkeit des menschlichen Gehirns in Betracht zu ziehen, ist daher nicht mehr ausreichend, um beurteilen zu können, was „wahr“ ist. Wir müssen immer häufiger auch darüber nachdenken, wie das zu beurteilen ist, was uns elektronisch als Wirklichkeit präsentiert wird.